Mir war ja schon immer bewusst, dass mein Hirnkasten von eher unzuverlässiger Natur ist, und so habe ich es auch immer irgendwie hingenommen, dass mein hirneigenes Erinnerungsalbum nicht so präzise funktioniert wie bei manch anderem. Nicht selten habe ich Freunde ehrfürchtig bestaunt, die mir nicht nur detailgetreue Anekdoten aus Kindergartentagen berichten konnten („Das war, als Thorsten und ich das Schaukelpferd mit Edding angemalt haben…“), sondern sogar noch wussten, was sie an dem Tag anhatten („die karierte Latzhose mit Schlag, was habe ich die gehasst!“)
Auch zu zahlreichen Geschichten aus Jugendtagen oder den Jahren danach fehlen mir die dazugehörigen Bilder komplett. Ich hab‘ mich beim Lauschen der Erzählungen nicht selten gefragt, ob ich da überhaupt dabei war, bei diesem angeblich abenteuerlichen Roadtrip nach Holland. Oder da „wo bei dem Umzug von Holger dieser riesige Spiegel aus dem Fenster gefallen ist, weißt du das ECHT nicht mehr?!“
Aber außer einem gelegentlichen Aufflackern von „Och ey, man könnte ja manchmal meinen, ich bin dement“ habe ich da nie konkreter drüber nachgedacht.
Mein Hirn – ein Sieb mit sieben Siegeln
Gerade in letzter Zeit bin ich immer wieder über massive Erinnerungslücken gestolpert, die weit über so’n bisschen verpeilte Hirndusseligkeit hinausgehen, und das fing dann doch an, mich zu beunruhigen.
Vor zwei Tagen bin ich dann beim Flanieren durch die sozialen Medien auf den Beitrag einer Threaderin gestoßen mit dem Wortlaut „Wieso redet eigentlich kaum jemand darüber, dass man durch Depressionen Erinnerungslücken bekommen kann?“ – und ich bin stutzig geworden. Man kann von Depressionen Erinnerungslücken bekommen? Ja, leck‘ mich doch fett!
In den zahlreichen Kommentaren unter diesem Beitrag haben dann viele Betroffene bestätigt, dass ganze Phasen ihres Lebens verschwommen wirken oder auch komplett ausgelöscht sind. Verrückt. Denen geht’s wie mir!
Where is my mind? Und – wo sind die Erinnerungen hin?
Ich habe direkt mal Dr. Google zu diesem Phänomen befragt, von dem ich doch unglaublicherweise vorher noch nie etwas gehört habe. Und dabei lese ich doch gefühlt alles, was je zum Thema Depressionen, Burnout und ADHS in die Welt getrötet wurde. Und tatsächlich bestätigt mir der allwissende Gockel, dass es da einen Zusammenhang gibt. Depressionen trüben ja nicht nur die Stimmung (na, das ist ja mal milde ausgedrückt), sondern beeinträchtigen die Hirnchemie (Serotonin, Noradrenalin, Dopamin). Das hat Auswirkungen auf Konzentration, Aufmerksamkeit und Verarbeitung im Gehirn. Und wenn der Schädel durch Stress, emotionale Erschöpfung oder Antriebslosigkeit halt dauerhaft im Überlebensmodus läuft, bleibt weniger Energie für vermeintlich unwichtige Dinge wie Erinnern oder Abspeichern von Informationen. So weit, so traurig.
Nun hatte ich zwar Zeit meines Lebens schon immer längere üble depressive Phasen, aber nicht zu 100% durchgängig. Und gerade da, wo mir scheinbar besonders viele Erinnerungen fehlen, war’s ja doch eigentlich ganz cool (zumindest, wenn man den Geschichten der damaligen Wegbegleiter Glauben schenken darf.) An die dunklen Zeiten erinnere ich mich blöderweise dann doch ein bisschen detaillierter, auch wenn es mir andersrum tausendmal lieber wäre.
Depressionen + ADHS = Gehirn im Wartungsmodus
Allerdings – ADHS hatte ich ja schon immer und durchgängig und nicht bloß lebensphasenweise. Laut Testung sogar in ziemlich schwerwiegender Ausprägung. Vielleicht liegt da am Ende der Hase im Pfeffer? Ich befrage erneut Dr. Google und die Antworten sind ernüchternd. Denn ADHS ist aus vielerlei Gründen ein garstiger Gegenspieler zum hirneigenen Erinnerungsalbum.
Ganz oben auf der Liste steht natürlich die bekannte Konzentrationsschwäche. Diese kann dazu führen, dass wichtige Erinnerungen und Informationen nicht tief genug verarbeitet und abgespeichert werden. Wenn man also permanent reizüberflutet ist, emotional überfordert, innerlich gehetzt oder ständig zwischen Reiz und Erschöpfung pendelt (und DAS kann ich leider für mich 100% unterschreiben und zwar rückblickend eigentlich für nahezu jede Lebensphase) – dann ist das Gehirn auch hier mit Überleben und Filtern beschäftigt und es bleibt kein Raum für bewusste, dauerhafte Speicherung .
Die berühmt-berüchtigte Vergesslichkeit, die damit einhergeht, tut ihr Übriges dazu, dass sich man auch oft gar nicht erst an Details erinnert, die es abzuspeichern gälte. Und das betrifft dann nicht nur die Alltagsdinge wie „Verdammt, wo hab‘ ich denn schon wieder die Schlüssel abgelegt“, sondern mitunter ganze Lebensphasen. Und wenn dann noch die Depressionen als komorbide Begleitererscheinung der ADHS mit ins Hirnstubenspiel kommt, kann das halt den finalen Nackenschlag für die innere Enzyklopädie bedeuten.
Heulen, Fluchen, Trauern… Naseputzen und weitermachen.
Und je mehr ich darüber lese, desto trauriger und wütender werde ich.
Jetzt hat mir das Scheiß-Arschloch-ADHS schon meine Konzentrationsfähigkeit, mein Arbeitsgedächtnis, Aufmerksamkeit, mentale Kontrolle und so verdammt viel Lebensqualität genommen, und DANN raubt es mir auch noch Erinnerungen!
Erinnerungen an wilde Roadtrips, vermurkste Umzüge mit Glasbruch, schräge Tanzvorführungen auf Grillpartys, Mehl-Carepakete zu Coronazeiten – und so, so, so SO viel mehr. Wie viel mehr, weiß ich ja nicht. Kann mich ja nicht erinnern. Scheißendreckmist, verdammter!
Auf diese Erkenntnis reagiere ich erst mal unglaublich erwachsen und reif (wie es bekanntermaßen halt so meine Art ist) – ich stapfe laut heulend durch die Wohnung und brülle zwischen diversen Schluchz-Atemaussetzern, wie sehr ich doch diese verfickte ADHS-Rotze hasse und wie abgrundtief zuwider mir dieser ganze Scheiß ist!
Dann putze ich mir die Nase und muss mal wieder leider erkennen, dass ich bei allem Heulen und Wehklagen am Ende halt doch nichts dran ändern kann. Ett iss wie ett iss. Und auch Doktor Google empfiehlt abschließend, dass man sich von der Idee verabschieden sollte, unbedingt im Nachgang alles rekonstruieren zu wollen, weil man sich damit ja wieder unter Druck setzt. Und Druck mag mein ADHS-Hirn so gar nicht, da macht die Hirnstube ja mal gleich die Schotten dicht.
Stattdessen solle man sich „Anker in der Gegenwart schaffen“ – bewusst schöne Dinge erleben, fotografieren und aufschreiben. Und am besten abends immer kurz resümieren, was man tagsüber so alles erlebt hat.
Und damit nehme ich mir fest vor, gleich morgen ein Büchlein zu kaufen, in das ich Fotos einkleben und kleine Notizen kritzeln kann, um zumindest das Hier und Jetzt festhalten zu können.
Allerdings, ach ja… beißt sich bei diesem hehren Vorhaben die ADHS-Katze wieder in ihren eigenen Schwanz, weil ich es einfach nicht auf die Kette kriege, eine Routine länger als 2,3 Tage durchzuhalten. Aber naja. Irgendwas ist ja immer.
ADHS, my ass!
(Hinweis: Natürlich bin ich kein Wissenschaftler, und alles, was ich mir hier zusammentippe, ist bloß das Zusammenspiel von Google-Recherche und eigenen Schlussfolgerungen. Auch würde ich mir nie anmaßen, allgemeingültige Weisheiten in die Welt zu posaunen. Also nicht jeder, der ADHS hat, muss zwangsläufig unter Erinnerungslücken leiden. Genauso wenig wie im Umkehlschluss Erinnerungslücken unbedingt ein Anzeichen von ADHS sind.
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