ADHS und Hyperfokus

Fast jedes Mitglied unseres neurodivergenten Rudels kennt vermutlich den berühmt-berüchtigten Hyperfokus, diesen Zustand extremer Konzentration auf eine bestimmte Sache, bei der alles um einen herum komplett ausgeblendet wird.
In Foren und Selbsthilfegruppen lese ich immer wieder die wildesten Geschichten von Frauen, die „eigentlich nur mal kurz die Küchenschublade aufräumen“ wollten, bevor die Kinder aus der Schule kommen. Kurze Zeit später fanden sie sich dann kleisterverklebt auf der Steh-Leiter wieder und tapezierten die Küche „mal eben“ neu, während das Abendessen anbrannte und die vergessene Wäsche nass in der Waschmaschine vor sich hinmüffelte. Blöderweise ist dieser Zustand bei den wenigsten plan- oder kontrollierbar – er springt einfach an, wenn plötzlich irgendeine Sache unser Interesse weckt.

So weit, so blöd.

Ich selbst kenne so einen wilden Renovierungs- oder Aufräumhyperfokus eher nicht so. Ich bin ja eher der ADHS-Paralyse-Typ. Ich stiere anscheinend viel lieber stundenlang stumpf die Wohnzimmerwand an, ohne mich bewegen zu können, statt wie ein wilder Dilldopp durch die Bude zu hampeln und Ordnung (bzw. das totale Chaos, seien wir doch mal realistisch) zu schaffen.

VORSICHT VOR DEM STRICKMONSTER

Gestern hat mich der Hyperfokus allerdings auf eine ziemlich gruselige Art heimgesucht und hat mir so richtig den Tag versaut. Während meines Urlaubs habe ich das Stricken für mich entdeckt, und seitdem tüddele ich recht untalentiert (aber mit Spaß) an dem einen oder anderen Projekt herum. Zuerst natürlich der obligatorische Schal (liegt seit Fertigstellung im Schrank, weil ich mich nicht motivieren kann, die Fäden zu vernähen) Gleich im Anschluss ein bunter Nierenwärmer. Dann kam ein Pullover auf die Nadeln. Gleichzeitig habe ich mal Zopfmuster ausprobiert, war begeistert, wie einfach das doch ist. Also: sofort Zopfstricknadeln bestellt (logisch!), und noch eine andere Wolle. Na gut, der Ehrlichkeit halber, die andere Wolle gleich in mehreren Farben. Und noch einen Satz dickerer Stricknadeln. (Natürlich ohne den angefangenen Pullover erst mal fertig zu stricken, wie der neurodivergente Leser sich vermutlich denken kann.)

NUR NOCH 2 REIHEN, DANN IST SCHLUSS. ABER WIRKLICH!

Und dann hat mich der Hyperfokus plötzlich mit Schwung in seinen Tunnel gesaugt. Hochmotiviert habe ich gleich zwei bunte Zopfmuster gleichzeitig ausprobiert… ach, noch 2 Reihen, ich bin so gespannt, wie das aussieht. Grandios! Jetzt nochmal mit breiterem Zopf in 2 Farben, los, weiter, weiter! Hach, das wird ja cool! Aber eigentlich würde ich gerne noch die neue Wolle ausprobieren. Egal, ich hab ja noch einen Satz Stricknadeln, fang ich halt den 3. Pulli an! Ha, super! Nee, doch nicht! Alles nochmal aufmachen! Wieder von vorne! Los, weiter!

Währenddessen wurde ich von hungrigen Katzen vorwurfsvoll umlagert. Ich selbst war halb verdurstet, weil ich in meinem Strickwahn jetzt aber WIRKLICH! keine Zeit zum Trinken hatte. Nur noch schnell zwei Reihen! Ich bin doch so neugierig! Das wird superschön! Danach trink‘ ich was. Ganz bestimmt.

Unterdessen stieg mein Stress-O-Meter immer weiter an. Denn eigentlich wollte ich an diesem Tag etwas ganz anderes machen. Und jetzt raste die Zeit im Sauseschritt davon! Langsam wurde es dunkel, das Hundetier musste raus. Ich sollte jetzt aber wirklich mal was trinken. Und Abendessen! Und die Katzen sind immer noch nicht gefüttert. Aber nee, so sieht das nix aus mit dem Strickmuster,ich ribbel‘ alles nochmal auf und fang nochmal an. Und fürs Erfolgserlebnis strick‘ ich natürlich sofort wieder bis zu der Stelle, an der ich alles aufgetrennt habe. Auf, auf!

HUND, KATZEN, DURST – DRAUF GEPFIFFEN!

Mein Nacken fing langsam an zu schmerzen und die Finger verkrampften, aber irgendwie gelang es mir partout nicht, mit dem zwanghaften Stricknadelklappern aufzuhören. Nur noch eine einzige Reihe, dann ist Schluss! Echt jetzt! Aber – na gut. Okay, okay. Bis zum Farbwechsel, aber dann! Verdammt, schon 23 Uhr und noch nichts getrunken! Schluss jetzt, aufhören! Hmm… aber irgendwie interessiert mich schon, wie so ein Zopf in grün und gelb aussieht, das mach‘ ich gerade noch fertig!

„Wuff, wuff!“
„Ja, ich komm‘ schon, nur noch kurz…!“
„Miauuuu!“
„Ja, ich hab auch Hunger, gleich!“

Grundgütiger, schon Mitternacht! Jetzt ist aber mal gut hier!

MÜDE BIN ICH, GEH ZUR…ACH, VERDAMMTE HACKE NOCHMAL!

Irgendwann gelang es mir dann (maximal gestresst und im höchsten Maße genervt) die diversen Strickzeuge in die Ecke zu pfeffern und die vernachlässigten Tiere zu versorgen. Irgendwann habe ich es dann sogar ins Bett geschafft. Aber nicht angenehm erschöpft, sondern total aufgekratzt, frustriert und extrem getrieben. Entsprechend unerholsam war dann auch der Nachtschlaf, und das dehydratisierte Erwachen mit stechendem Kopfschmerz war auch nicht der Start in den Tag, den man sich so wünscht. ADHS, my ass! Da wird eine Sache, die eigentlich Spaß machen und der Entspannung dienen sollte, durch so eine abgefuckte Dopaminstörung am Ende ein einziger Krampf! Und Kopfschmerzen und Frust gibt’s gleich noch gratis dazu. Schönen Dank auch, herzallerliebstes Gehirn!

WAS IST DENN DA LOS IM HIRNKASTEN?

Aber was genau passiert eigentlich bei dieser Sache mit ADHS und Hyperfokus? Im ADHS-Hirn sind Dopamin und Noradrenalin in der Schaltzentrale für Motivation und Selbstkontrolle meist ungleichmäßig aktiv. Wenn einen dann plötzlich eine Sache interessiert (oder gar sofortige Belohnung verspricht, wie beim Handarbeiten, da hat man ja direkt ein Ergebnis), wird plötzlich viel Dopamin ausgeschüttet, und bäm! wird die Aufmerksamkeit wie ein Magnet festgesaugt. Man verliert das Zeitgefühl und oft auch das Bedürfnis nach Essen, Trinken und Pausen. Und – was richtig doof ist – am Ende gibt’s zumeist noch einen regelrechten Kater, wenn das Dopamin wieder abfällt und man fühlt sich erschöpft, kaputt, gereizt. Kann ich übrigens bestätigen. Tolle Wurst!

Angeblich bekommt man diesen Hyperfokus-Scheiß besser in den Griff, wenn man sich einen Timer stellt und dann wirklich konsequent (Haha! Finde den Fehler!) nach einer gewissen Zeit aufhört. Oder zumindest eine kurze (Trink!)-Pause macht. Ich für meinen Teil habe stattdessen aber erst mal alle Strickwerke tief in den Schrank gesteckt. „Aus den Augen, aus dem Sinn!“ funktioniert bei ADHS-Hirnen ja grundsätzlich ganz hervorragend. Den heutigen Tag werde ich mit Spazieren (der arme vernachlässigte Hund!), viel trinken und einer Wärmflasche für den Nacken verbringen.

Mich kriegt das Hyperfokus-Monster zumindest heute nicht mehr!



(Dieser Text enthält noch nicht mal Spuren von fachlicher Kompetenz und wissenschaftlich fundierten Fakten. Er basiert nur auf meiner eigenen Erfahrung und dem, was ich mir darauf zusammengereimt habe. Und natürlich hat nicht jeder ADHSler derart nervige Hyperfokuserlebnisse – und nicht jeder, der nervige Hyperfokuserlebnisse hat, hat automatisch ADHS. Es ist – wie immer – halt nicht so einfach.)